Demokratie lebendig machen
Gehörst du zu einer Generation, die „keinen Bock auf Politik“ hat oder glaubst du, dass sich eine interessierte, aber kritische Öffentlichkeit entwickelt? In der rauen, globalisierten Leistungsgesellschaft von heute stehen nicht nur Berufspolitiker*innen, sondern auch andere Segmente der Gesellschaft unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck. Die Zeiten, einen „Besenstiel als politischen Kandidaten“[1] aufzustellen, sind für die etablierten Parteien weitgehend vorbei – auch, weil gesellschaftliche Milieus und damit Stammwähler*innen wegbrechen. Für die Wähler*innen von populistischen Formationen scheinen darüber hinaus die Qualität und andere Persönlichkeitswerte der Kandidat*innen fast egal. Rationale Argumente, lange und einleuchtende Erklärungen, verständnisvoll aufbereitet und mit Praxisbeispielen garniert – das müsste sich doch durchsetzen und damit populistische Bauernfängerei und „Politik aus dem Bauch heraus“ bekämpfen, denken viele professionelle Beobachter*innen. Mit intellektuellen Mitteln ist jemandem wie Donald Trump jedenfalls kaum beizukommen. Wer so agiert, läuft direkt in die Falle: Populismus überschreitet Normen, greift zu absichtlichen „Ausrutschern“, die immer wieder wiederholt werden. Es wirkt: Ein dumpfer Antiintellektualismus ist auf den Vormarsch – trotz aller Worte von der aufgeklärten Gesellschaft, vom Informationszeitalter, von der Postmoderne und der Weltgesellschaft im liberal-demokratischen Zeitalter. Immerhin galten die USA in jedem politischen Lehrbuch der westlichen Hemisphäre als Referenzpunkt von Demokratie.
Durch die veränderten Rahmenbedingungen steht es außer Frage, dass Reformideen für eine lebendige Demokratie munter wie ernsthaft diskutiert werden. Immer wieder ist die grassierende Wahlmüdigkeit ein Thema. Wählen ab 16, e-voting (wie etwa in Estland seit Jahren landesweit praktiziert wird), Wählen in Supermärkten, Einkaufszentren oder Bahnhöfen lauten immer wieder gehörte Vorschläge, die aber nicht per se dazu führen, Populist*innen zu schwächen. Die Auseinandersetzung mit dem Populismus wird immer schwieriger, da ihre Politik der Vereinfachung, Zuspitzung und Empörung quasi als „Ersatzreligion“ immer breiteren Teilen der europäischen Bevölkerung Halt gibt. Das zeigen die gegenwärtigen Entwicklungen deutlich, die auf Tendenzen von Antipolitik hinweisen. Hier zählen Schlagworte mehr denn ausgefeilte Konzepte, übertrifft der „gesunde Menschenverstand“ intellektuelle Einwürfe. Populist*innen wissen, dass Fakten und eine vernünftige Argumentation irgendwie langweilig und unspektakulär sind und deshalb die Wirksamkeit der Kommunikation vermindern. Verdrehen von Fakten bis hin zu Lügen sowie das oftmalige Ausblenden von Realpolitik schaden den Populist*innen oftmals nicht. Das gilt für die Wortführer der Brexit-Kampagne ebenso wie für Donald Trump. Dennoch: In der politischen Auseinandersetzung müssen Populist*innen immer wieder nach ihren Lösungsideen befragt werden, wie beispielsweise: Was schlagen Sie zur Bekämpfung von Abwanderung und Altersarmut vor? Wie nutzen Sie die Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft? Wie reagieren Sie auf ökologische Herausforderungen? Wie gehen Sie mit den politischen Konfliktherden wie im Nahen und Mittleren Osten um? Vielleicht regen die stockenden und ausweichenden Antworten auf diese Fragen ihre Anhänger*innen ja zum Nachdenken an.
[1] Die Metapher des Besenstils spielt auf die Vorstellung an, dass in Deutschland ausschließlich die Partei und ihr Programm den Wähler*innen wichtig seien und der Spitzenkandidat oder die Spitzenkandidatin keine Rolle spiele und an ihrer Stelle auch ein Besenstil aufgestellt werden könne.
Bernhard Weßels. „Die Zeit der Besenstiele ist vorbei“, in: Zeit Online, 9. September 2017, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-08/wahlkampf-parteien-wahlprogramm-besenstiel, zuletzt geprüft am 6. Oktober 2022.