"Dann geziehmt es euch, dass ihr fortan zierlich redet..."
Sprache und Erziehung im Kontext der jüdischen Aufklärung
Sachinformation
Worum geht es?
Das Modul verweist im historischen Kontext von Emanzipation und jüdischer Aufklärung auf den Zusammenhang zwischen Erziehung und (sprachlicher) Bildung einerseits und gesellschaftlicher Akzeptanz und Integration andererseits. An diesem Gegenstand können paradigmatisch externe gesellschaftspolitische Erwartungen (hier die sprachliche und kulturelle Anpassung der Juden an die Mehrheitsgesellschaft zum Nutzen des Staates) und die Dialektik interner Anpassungsleistungen (hier die Reformbemühungen der jüdischen Aufklärer) in ihrem Zusammenhang bearbeitet und verdeutlicht werden.
In den frühen 80er Jahren des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Anzeichen, dass aufgeklärt absolutistische Herrscher im Kontext allgemeiner Reformen und zum Nutzen des Staates auch der jüdischen Bevölkerung größere Rechte einzuräumen bereit waren – wenn diese im Gegenzug auf bestimmte partikulare Merkmale verzichteten. Zu diesen gehörte u.a. die jüdische autonome Gemeindeverwaltung, aber vor allem auch die jiddische Umgangssprache der Juden, die die Interaktion mit ihnen im Rahmen staatlicher Verwaltungsakte und gerichtlicher Vorgänge erschwerte, die aber auch als eine der Ursachen eines postulierten sittlichen Tiefstandes der Juden galt. Unterricht in der deutschen Sprache und die Vermittlung weiterer weltlicher Kenntnisse sollten nach Auffassung reformabsolutistischer Beamter die Juden zu „nützlichen“ Untertanen des Staates machen.
Die Idee einer Reform der bis dahin ausschließlich religiösen jüdischen Erziehung bewegte zu dieser Zeit auch die Anhänger der Haskala (von hebr. Heskel – den Verstand bilden), der jüdischen Aufklärung. In einer Vielzahl von Programmschriften und Sendschreiben, Artikeln in jüdischen Aufklärungszeitschriften und Vorworten zu von ihnen verfassten, neuartigen Lehrbüchern der Religion und Moral oder der hebräischen Sprache formulierten die jüdischen Aufklärer, die Maskilim, ihre Vorstellungen von einer erneuerten Erziehung jüdischer Jungen und Mädchen. Die Erziehung wurde zur Leitdisziplin des aufklärerischen Projekts einer kulturellen Erneuerung der jüdischen Gesellschaft. Dabei spielte einerseits das Aufklärungsideal von der moralischen Vervollkommnung des Menschen durch Bildung eine wichtige Rolle. Andererseits wirkte die Verlockung sozialen und ökonomischen Aufstiegs vor dem Hintergrund der Versprechen von Toleranz, bürgerlicher Verbesserung und rechtlicher Emanzipation, wie sie die Vertreter des reformabsolutistischen Staates formulierten.
Die Maskilim entwickelten ihre Vorstellungen zur Reform der jüdischen Erziehung unter dem Einfluss der zeitgenössischen aufgeklärten Pädagogik, etwa der Ideen der deutschen Philanthropinisten vom anschaulichen, selbsttätigen Lernen und einer kinderfreundlichen Lehrmethode. Darüber hinaus enthielt die Bildungsprogrammatik der jüdischen Aufklärer die Forderung nach einer Erweiterung des traditionellen jüdischen Curriculums durch den Unterricht in der Landessprache und in Fremdsprachen, in Rechnen, Naturwissenschaften und anderen säkularen Fächern. Sie riefen zu einer Reform des Religionsunterrichts auf, in dessen Rahmen das Studium der hebräischen Bibel Priorität vor dem Talmudstudium erhalten sollte. Auch jüdischen Mädchen war seitens der jüdischen Aufklärer eine Schulbildung zugedacht.
In den wenigen Modellschulen der Haskala, die nach dem Vorbild der 1778 in Berlin gegründeten jüdischen „Freischule“ entstanden, versuchten die Maskilim quasi unter Laborbedingungen, ihre Reformvorstellungen in der Praxis anzuwenden. Im josephinischen Habsburgerreich schritt der Staat selbst zur Tat, eröffnete eine große Zahl von deutschen Elementarschulen für jüdische Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren und machte deren Schulbesuch zur Pflicht.
Welche Materialien werden verwendet?
Dieses Modul arbeitet mit mehreren historischen Quellen und Arbeitsblättern. Begonnen wird mit einer Quelle zur UN-Kinderrechtskonvention von 1989 (Material 1), in der die Vertragsstaaten das Recht von Kindern auf Bildung erklären und den unentgeltlichen Besuch der Grundschule zur Pflicht machen. Sie bietet einen aktuellen Einstieg zum Thema Schulpflicht, was im späteren Verlauf des Moduls aufgegriffen wird.
Die nachfolgenden Materialien behandeln sowohl Grundgedanken zur Emanzipation als auch die Errichtung neuer Schulen: So enthält Material 2 einen Abschnitt aus der programmatischen Schrift des preußischen Geheimen Kriegsrats Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751-1820) „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781. In ihr wandte sich Dohm gegen die Diskriminierung der Juden und sprach sich für ihre rechtliche Emanzipation aus. Der Passus über die Rolle des Staates bei der Erziehung der Juden eignet sich gut, um den quid-pro-quo-Grundsatz des Emanzipationsgedankens im aufgeklärten Absolutismus – die Juden müssten sich zunächst bilden und sittlich bessern, erst dann könne ihre rechtliche Gleichstellung erfolgen – zu erläutern. Das Dekret Josephs II. vom 19.10.1781 über die Errichtung deutschsprachiger jüdischer Schulen stellt ein weiteres Dokument staatlicher Provenienz im Kontext der Reform jüdischer Erziehung in der Aufklärungszeit dar (ebenfalls Material 2). Das Dekret ist darüber hinaus in den Kontexten der allgemeinen josephinischen Reformen (Durchsetzung des Elementarunterrichts und der Schulpflicht im Habsburgerreich) und der Toleranzpolitik Josephs II. gegenüber der jüdischen Bevölkerung seines Reichs zu sehen. Die Errichtung deutscher „Normalschulen“ für jüdische Kinder (die daneben weiterhin ihre traditionellen, religiösen Schulen besuchen durften) sollte dazu dienen, die jiddische Umgangssprache durch die deutsche Sprache zu ersetzen und die Juden durch die ihnen zugedachte sprachliche und moralische „Läuterung“ sowie durch die Vermittlung weiterer Kenntnisse zu nützlichen Untertanen des reformabsolutistischen Staates zu transformieren. Während es in Preußen kaum derartige staatliche Versuche gab, wurden im Habsburgerreich deutsche Schulen für jüdische Kinder fast flächendeckend, jedoch mit unterschiedlichem Erfolg, eingerichtet.
Die zweite Stunde beginnt mit einer Seite aus der Pentateuchübersetzung Moses Mendelssohns (Material 4). Moses Mendelssohn (1729-1786) ging in den späten 1770er Jahren daran, die Tora – die fünf Bücher Mose – aus dem Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen. Zugleich versahen Mendelssohn und einige seiner Mitstreiter unter den jüdischen Aufklärern (u.a. Naphtali Herz Wessely) den Bibeltext mit einem neuen Kommentar (hebr. Bi’ur), der traditionelle mit moderat aufgeklärten Elementen verband. Bis dahin war die Bibel im traditionellen jüdischen Religionsunterricht unter Zuhilfenahme jiddischer Übersetzungen gelehrt worden, denn auch die hebräische Sprache mussten die jüdischen Kinder zunächst noch erlernen. Diese Vorgehensweise stieß auf die Kritik der Maskilim (jüdische Aufklärer), die das Jiddische für die von ihnen und von der Mehrheitsgesellschaft postulierten und angeprangerten kulturellen Defizite der Juden verantwortlich machten. Mendelssohn und seine Gefährten hatten mit der Übersetzung sowohl den Nutzen für die Integration der Juden in die moderne Gesellschaft als auch den religiösen Zweck vor Augen: Durch das gleichzeitige Studium des hebräischen Originaltextes der Bibel und der Übersetzung ins Deutsche sollten die Schüler einerseits ein „reines“ Deutsch erlernen und sich auf diese Weise der Kultur der Mehrheit gegenüber öffnen, andererseits würden sie den Wortlaut des biblischen Originaltextes und damit seinen Sinn besser verstehen. Weitere Quellen zu Mendelssohn runden diese Unterrichtseinheit ab (Materialien 5 und 6).
Der dritte und letzte Teil des Moduls befasst sich mit ienem Vergelich zwischen der Unter-richtsgestaltung von vor 300 Jahren und heute, sodass die SchülerInnen starke Lebensweltbezüge vorfinden. Nach einem Gemälde Moritz Daniel Oppenheims (1800 – 1882) zur Lernatmosphäre in einer jüdischen Elementarschule (Cheder) (Material 7) wird auch genauer auf einen damaligen Stundenplan eingegangen (Material 9). In dem Bild finden sich Elemente der Idealisierung (Vertrautheit, Intimität) wie auch Elemente der Kritik, wie sie auch die jüdischen Aufklärer an dieser Schulform übten. So wurden in einem Cheder oft Kinder unterschiedlichen Alters, mithin unterschiedlicher Entwicklungs- und Leistungsstufen, zur gleichen Zeit von einem Lehrer unterrichtet. Diese Form des Unterrichts wurde von den Aufklärern als unsystematisch, kaum kindgerecht und wenig effektiv kritisiert. Die Fixierung auf das Studium des Talmuds, gegen die sich die Kritik ebenfalls richtete, taucht in diesem Bild hingegen nicht auf. Der Stundenplan stammt aus dem Frankfurter Philanthropin aus dem Jahr 1804. Das 1804 gegründete Philanthropin in Frankfurt folgte einem Reformmodell, das jüdische Aufklärer um David Friedländer (1750 - 1834) erstmals in Berlin erprobt hatten. An der 1778 gegründeten Berliner jüdischen „Freischule“ wurden neben der Bibel und der hebräischen Sprache unter anderem auch die deutsche Sprache, Französisch, Rechnen, Geographie und Buchhaltung unterrichtet. Sie stand unentgeltlich auch den Kindern armer Juden offen, die keinen traditionellen Lehrer für die religiöse Unterweisung ihrer Kinder finanzieren konnten und die daher gar keine Schulbildung erhielten. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhunderts entstanden in verschiedenen deutschen Städten Schulen nach dem Muster der Berliner jüdischen Freischule, so 1799 in Dessau, 1801 in Seesen oder eben 1804 in Frankfurt am Main das jüdische „Philanthropin“, das seine programmatische Ausrichtung bereits im Namen trug. Weitere jüdische Reformschulen entstanden in Hannover (1798), Detmold (1808), Kassel (1809), Mainz (1814) und Hamburg (1816). Gemeinsam waren allen in Deutschland nach 1778 errichteten jüdischen Schulen moderner Prägung die Betonung des Unterrichts in der deutschen Sprache und in weiteren säkularen Fächern sowie die Orientierung an den Unterrichtsmethoden der Philanthropinisten. Sie öffneten ihre Tore vor allem für die Kinder mittelloser jüdischer Familien. Hebräisch- und Bibelunterricht waren nach den Vorstellungen der jüdischen Aufklärer gestaltet; darüber hinaus beschränkte sich der Religionsunterricht zumeist auf die Vermittlung im Sinne der natürlichen Religion gedeuteter Glaubensgrundlagen und Moralvorstellungen.
Materialübersicht:
Material 1: Arbeitsblatt 1 „Recht auf Bildung“
Material 2: Arbeitsblatt 2 „Die Rolle des Staates“
Material 3: Arbeitsblatt 3 „Reformen im Bildungswesen“
Material 4: Quelle „Pentateuch-Übersetzung“
Material 5: Quelle „Jiddische Sprache“
Material 6: Arbeitsblatt 4 „Moses Mendelsshohn“
Material 7: Quelle „Cheder“
Material 8: Quelle „Die Erziehung jüdischer Kinder“
Material 9: Arbeitsblatt 5 „Stundenplan“
Weiterführende Literatur
- Behm, Britta L.: Moses Mendelssohn und die Transformation der jüdischen Erziehung in Berlin. Eine bildungsgeschichtliche Analyse zur jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, Münster/New York 2002.
- Behm, Britta L; Lohmann, Uta; Lohmann, Ingrid (Hrsg.): Jüdische Erziehung und aufklärerische Schulreform. Analysen zum späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, Münster 2002.
- Brenner, Michael (Hrsg.): Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2002.
- Eliav, Mordechai: Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipation, Münster; New York 2001.
- Feiner, Shmuel: Haskala - jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution, Hildesheim 2007.
- Feiner, Shmuel: Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung, Göttingen 2009.
- Hecht, Louise: „Gib dem Knaben Unterricht nach seiner Weise“. Theorie und Praxis des modernen jüdischen Schulsystems in der Habsburger Monarchie, in: Martin Scheutz; Wolfgang Schmale (Hrsg.):Orte des Wissens, Bochum 2004, S. 117–134.
- Katz, Jacob: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870, Frankfurt am Main 1986.
- Lässig, Simone: Sprachwandel und Verbürgerlichung. Zur Bedeutung der Sprache im innerjüdischen Modernisierungsprozeß des frühen 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift : HZ 270 (2000), S. 617–667.
- Lässig, Simone: Bildung als kulturelles Kapital? Jüdische Schulprojekte in der Frühphase der Emanzipation, in: Andreas Gotzmann (Hrsg.):Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800 - 1933, Tübingen 2001, S. 263–298.
- Lohmann, Ingrid; Lohmann, Uta; Behm, Britta L. (Hrsg.): Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778 - 1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Eine Quellensammlung, Münster u.a. 2000.
- Lohmann, Ingrid (Hrsg.): Naphtali Herz Wessely: Worte des Friedens und der Wahrheit. Dokumente einer Kontroverse über Erziehung in der europäischen Spätaufklärung, Münster/New York 2014.
- Sadowski, Dirk: Art. „Freischule“, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hrsg. von Dan Diner, Bd. 2, Stuttgart 2012, 385–391.
- Schulte, Christoph (2002): Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002. Universität Potsdam: Haskala.net http://www.haskala.net/index.html
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