Von Berlin an den Bosporus

Die Geschichte deutsch-jüdischer Intellektueller in der Türkei der 1930er Jahre und ihr Einfluss auf die moderne Republik

Sprache: Deutsch
Von: Dr. Önder Cetin, Ersin Cagin, Mehmet Oyran

Ablaufplan

  1. Stunde 1: Migration mal anders – Deutsche Flüchtlinge in der Türkei während der NS-Zeit

    1. Lernziele

      • Die Schüler*innen (S*S) setzen sich mit Migration und Flucht nach der Macht­über­nah­me der Nationalsozialist*innen auseinander, indem sie Deutschland nicht als Aufnahmeland, sondern als Herkunftsland betrachten.
      • Sie lernen Albert Einstein nicht nur als „Vorzeigemigrant“ der USA kennen, sondern auch als Fürsprecher für bedrohte jüdische Wissenschaftler*innen.
    2. Vorbereitung

      • Titel und Inhalt der Unterrichtseinheit sollten erst in der zweiten Hälfte der Stunde bekanntgegeben werden.
      • Die Lehrkraft fertigt ausreichende Kopien von Material 2-5 und 7 an. Sollten S*S mit leichteren Formen der Sehbehinderung in der Klasse sein ist es ratsam, die Materialien 2 und 3 auch in einem größerem Format vorzubereiten.
      • Es werden Tafel , Smartboard, Beamer oder OHP benötigt.
      • Die Lehrkraft bereitet die Projektion der Abbildungen in Material 1 und 2 ans White­board oder eine weiße Wand vor.
      • Je nachdem wie sehr die Lehrkraft die Diskussion um Albert Einsteins Engagement für andere deutsch-jüdische Intellektuelle und seine eigene Auswanderung eingehen möchte, kann sie sich im Vorwege informieren, z.B. mit Hilfe folgender Texte: http://www.exil-archiv.de/grafik/biografien/einstein/EinsteinExilOkt05.pdf und Arnold Reisman. „Jewish Refugees from Nazism, Albert Einstein, and the Modernization of Higher Education in Turkey (1933-1945)“, in: Aleph: Historical Studies in Science & Judaism, 7 (2007), S. 253-281, hier besonders S. 262-268.
      • Sofern die Lehrkraft zuvor bereits mit den S*S die Quellenkritik geübt hat, legt sie die dafür verwendete Systematik bereit oder verwendet die in Material 2 vorgefertigte Maske.
    3. 1 . Einstieg

      Dauer 15 min
      • Als Impuls zeigt die Lehrkraft einen Brief von Albert Einstein (Material 1), den sie ans Whiteboard oder eine weiße Wand projiziert. Er adressiert ein Land, dessen Namen geschwärzt ist. Die Lehrkraft lässt den Brief vorlesen und bittet S*S mit guten Englischkenntnissen bei der Erschließung des Inhaltes helfen (eine Übersetzung wird zu einem späteren Zeitpunkt bereitgestellt.
      • Die Lehrkraft fordert die S*S dazu auf, das Material zu beschreiben.
      • Impulse:
        > Von wem wurde der Brief verfasst?
        > Wann wurde er geschrieben?
        > Was ist das Anliegen?
    4. 2 . Arbeitsphase

      Dauer 30 min
      • Die Lehrkraft fragt die S*S, wie man eine ausführliche Einordnung des Briefes in der Geschichtswissenschaft nennen würde.
      • Sofern der Begriff „Quellenkritik“ genannt wird, fragt die Lehrkraft die Bestandteile einer Quellenkritik ab. Sie kann anschlie­ßend die Hintergrundinformation (Material 2) ans Whiteboard oder eine weiße Wand projizieren oder alternativ eine eigene Systematik für die Quellenkritik verwenden.
      • Die Lehrkraft bitte die S*S zusammen­zutragen, was sie als nächstes benötigen, um eine Quellenkritik durchzuführen. Wenn Informationen zu Sender*innen und Empfänger*innen genannt werden kündigt die Lehrkraft an, diese in Kürze bereitzu­stellen.
      • Die Lehrkraft richtet die Aufmerksamkeit auf das Datum, an dem der Brief verfasst wurde und fordert die S*S auf, etwas zu politischen und gesellschaftlichen Grund­merkmale jener Zeit zu sagen. Hierdurch wird das Vorwissen der S*S reaktiviert. Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei wird am Ende der Stunde noch thematisiert.
      • Wenn die S*S die Kernaspekte des Briefes wiedergegeben haben, stellt die Lehrkraft folgende Frage: Welches Land könnte adressiert sein?
      • Die S*S nennen Länder und die Lehrkraft kann nach der Begründung fragen.
      • Schließlich klärt die Lehrkraft auf, dass es sich bei dem vom Brief adressierte Land um die Türkei handelt.
      • Sie sammelt die Eindrücke der S*S und geht darauf ein. Gegebenenfalls thema­tisiert und hinterfragt sie entstandene Stereotypen.
      • Die Lehrkraft teilt Kopien von Material 3 und die dazugehörige Übersetzung (Material 4) aus, damit die S*S den Brief zum Nach­lesen vorliegen haben.
      • Nun verteilt die Lehrkraft die Hintergrund­information (Material 5), unterteilt die S*S in fünf Gruppen und teilt diesen jeweils einen Verfasser oder Adressat zu, mit dem sie sich auseinander­setzen.
      • Nach einer kurzen Lesephase tragen die jeweiligen Gruppen ihre Informationen zusammen und stellen diese jeweils im Plenum vor.
      • Hinweis:
        In der Rezeption des Briefes, vor allem in sozialen Medien, wird häufig behauptet, dass sich Einsteins Brief direkt an Atatürk richtete. Hier sehen die S*S aber, dass er an den Premierminister Ismet Inönü adres­siert war. Der Brief führte auch nicht direkt zur Aufnahme deutsch-jüdischer Intellektu­el­ler in der Türkei. Er wurde sogar mit dem Argument abgelehnt, dass die Türkei bereits begonnen hatte, Physiker*innen und andere Professor*innen aus Deutsch­land aufzunehmen.
      • Die Lehrkraft bittet die S*S zu prüfen, welche Aspekte der Quellenkritik sie nun abgearbeitet haben und ergänzt, dass dies für die Durchführung der Unterrichtseinheit ausreicht. Nun fragt sie die S*S, was sie mit Hilfe dieser Quelle gelernt haben und worum es in den folgenden Unterrichts­stunden gehen könnte.
      • Sie kündigt an, dass es in der nächsten Stunde um (jüdische) Migration in die Türkei gehen wird.
  2. Stunde 2: Warum Deutschland verlassen? Warum in die Türkei auswandern?

    1. Lernziele

      • Die S*S analysieren die Fluchtursachen, indem sie das Konzept der „Push- und Pull-Faktoren“ im Zusammenhang mit deutschen Jüd*innen, die in die Türkei flohen, anwenden.
      • Sie bekommen ein Gefühl dafür, wie unterschiedlich vor allem Pull-Faktoren für Migration sein können.
    2. Vorbereitung

      • Die Lehrkraft fertigt ausreichende Kopien von Material 6-8 an. Für S*S mit Hörbehinderungen sowie nicht-muttersprachlichen Deutschkenntnissen, kann das Transkript des Videos (Material 10) ebenfalls ausgedruckt werden.
      • Sie bereitet die Einführung vor, indem sie sich die Informationen zum Konzept der Push- und Pull-Faktoren ansieht.
      • Die technischen Voraussetzungen für das Präsentieren des Videos in Material 9 sind sichergestellt.
    3. 3 . Einstieg

      Dauer 5 min
      • Die Lehrkraft kündigt an, dass es in dieser Stunde um Migration geht. Mit Hilfe der Informationen in Material 6 führt sie das Konzept „Push- und Pull-Faktoren“ ein.
    4. 4 . Arbeitsphase

      Dauer 20 min
      • Die Lehrkraft teilt die S*S in Kleingruppen ein und verteilt die Materialien 6-8.
      • Die S*S arbeiten anhand der Materialien 7 und 8 die Push- und Pull-Faktoren, die Jüd*innen dazu gebracht haben, in die Türkei zu fliehen, heraus und ordnen sie den Kategorien in Material 6 zu.
    5. 5 . Ergebnissicherung

      Dauer 20 min
      • Die S*S präsentieren die Ergebnisse der Gruppenarbeit. Dabei konzentriert sich jede Gruppe auf einen Faktor und die anderen ergänzen die Ergebnisse durch eigene Funde.
      • Im Anschluss zeigt die Lehrkraft einen Ausschnitt aus einem Video über deutsche Migrant*innen, die vor den Nationalsozia­list*innen in die Türkei geflohen sind (Mate­rial 9 sowie das Transkript des Textes in Material 10). Er zeigt ein Beispiel zu Push- und Pull-Faktoren, das die S*S möglicher­weise nicht berücksichtigt haben. Ein weite­rer Ausschnitt aus dem Video wird in der letzten Unterrichtsstunde behandelt.
      • Hinweis (zu sephardischen Jüd*innen im Osmanischen Reich):
        Die sephardische Migration ins Osmani­sche Reich stellt ein faszinierendes Kapitel der jüdischen Geschichtsschreibung dar. Infolge der Spanischen Inquisition im Jahr 1492, als König Ferdinand und Königin Isabella die Jüd*innen aus Spanien vertrie­ben, empfing Sultan Bayezid II die geflohe­nen jüdischen Gemeinschaften in seinen Territorien.
        Das Osmanische Reich und später die Repu­blik Türkei entwickelten sich zu einer Zufluchtsstätte für sephardische Jüd*innen. Schätzungen zufolge ließen sich zwischen 150.000 und 200.000 sephardische Jüd*in­nen in verschiedenen osmanischen Gebie­ten nieder, wobei eine signifikante Anzahl in Städten wie Istanbul, Izmir und Thessa­lo­niki (damals Teil des Osmanischen Reiches) eine Heimat fand.
        Diese sephardischen Jüd*innen brachten eine Vielzahl kultureller Traditionen, hand­werk­liche Fertigkeiten, wirtschaftliche Expertise und eine einzigartige Sprache – das Ladino (Judeo-Spanisch) – mit, die sie über Generationen hinweg beibehielten. Sie integrierten sich in die osmanische Gesellschaft und bewahrten gleichzeitig ihre kulturelle Identität, wobei sie häufig als bedeutende Vermittler*innen im Handel und in diplomatischen Beziehungen fungierten.
      • Nachdem die S*S das Video angesehen haben, kann der Inhalt besprochen werden und eine Diskussion mit verschiedenen Schwer­punkten, je nach Interesse der S*S, kann geführt werden.
      • Es bietet sich z.B. folgende Vertiefungs­möglichkeiten an:
        > Die S*S können Vermutungen über die Antwort der türkischen Behörden auf Ein­steins Bitte anstellen.
        > Die S*S können diskutieren, welche Bedeutung Einstein als Fürsprecher der jüdischen Exilant*innen hatte, warum er sich für andere Akademiker*innen ein­setzte und warum es einer der berühm­testen Physiker der Welt tun musste.
        > Die S*S können einen persönlichen Bezug zu unterschiedlichen Push- und Pull-Faktoren herstellen und begründen, warum manche ihrer Meinung nach entscheidender sind als andere. Hierbei ist es wichtig verschiedene Perspektiven herauszuarbeiten, denn die Begründung kann z.B. mit familiären Situationen zu tun haben, historischen Ereignissen, eigenen Erfahrungen.
        > Die S*S können überlegen, wie man das Berufsverbot für die jüdischen Akade­mi­ker*innen durch die National­sozialist*innen angesichts ihrer enormen Kompetenzen erklären kann.
      • Erwartungshorizont:
        Einsteins Brief an den türkischen Minister­präsidenten und die früheren Initiativen von Malche und Schwartz kann als eine Art „Tausch­handel“ angesehen werden. Es ist sehr brisant, dass für das Gerettetwerden und Überleben eine Gegenleistung angeboten wird, die in diesem Fall hervor­ragende Fach­kompe­tenzen, erfolgreiche Karriere und fleißige Arbeits­leistungen von renom­mier­ten Professoren sind. Hier stellt sich die Frage, ob dies ein gesellschafts- und epochenübergreifendes Phänomen ist.
        Angesichts der kontroversen und zum Teil sehr emotionalen Diskussionen spüren tatsächlich auch heute Menschen mit Migrationshintergrund den Druck, beson­ders erfolgreich sein oder eine Vorbild­funktion haben zu müssen, um in ihrer neuen Heimat akzeptiert zu werden. Auch gut gemeinte Ansätze der Rechtfertigung politischer Maßnahmen zugunsten von Migrant*innen, die posi­tive Aspekte von Migration hervorheben sollen, beziehen sich häufig auf das­selbe Muster, indem sie „gute Beispiele“ und Vorbilder aus dem Migrant*innnemilieu betonen. Sie erhöhen damit gleichzeitig den Druck auf Mi­grant*in­nen und stützen sich ausschließlich die eigene Leistung von ihnen, während sie vollkommen übergehen, dass Men­schen mit Migrationshintergrund in Gesell­schaften wie in Deutschland nicht die gleichen Privilegien genießen wie Men­schen ohne Migrationshintergrund und somit ein „Scheitern“ oder weniger großartige Erfolge nicht automatisch auf ein Mangel an Einsatzbereitschaft zurück­zuführen sind, sondern viel komplexere Hintergründe haben.
  3. Stunde 3: Bruno Taut – Ein Architekt zwischen Tradition und Moderne

    1. Lernziele

      • Die S*S lernen die Geschichte eines verfolgten Exilanten aus Deutschland in der Türkei kennen, in dem sie das Leben und Werk des Architekten Bruno Taut anhand ausgewählter Quellen erarbeiten und die Bedeutung seiner Arbeit für die aufstreben­de türkische Republik in der Zwischenkriegszeit beurteilen.
      • Die S*S erkennen das Potenzial einer „neuen Heimat“ für Einwander*innen und Chancen, die das neue Land unabhängig von der Herkunft für Einwander*innen bieten kann.
    2. Vorbereitung

      • Die Lehrkraft fertigt ausreichende Kopien von Material 12, 14, 15 und 16 für die Gruppenarbeit an. Wenn türkischsprachige S*S in der Klasse sind, fertigt sie für diese zudem Kopien von Material 13 an.
      • Die Möglichkeit zur Projektion der Fotos in Material 11 und 17 ist sichergestellt.
      • Computer oder Tablets mit Internetzugang für die Recherche im Rahmen der Gruppenarbeit stehen zur Verfügung.
      • Die Lehrkraft überlegt sich, in welcher Form die S*S die Ergebnisse der Gruppen­arbeit präsentieren sollen und bereitet die Ausstattung vor, die sie dafür benötigen.
    3. 6 . Einstieg

      Dauer 7 min
      • Die Lehrkraft zeigt als Einstieg zwei Bilder (Material 11). Es handelt sich um einen Bereich für Märtyrer auf dem Edirnekapı Fried­hofs in Istanbul und den Grabstein von Bruno Taut. Sie lässt die S*S gemein­sam überlegen, was sie auf den Bildern sehen. Anschließend lässt sie eine*n Schüler*in die Bildunterschrift vorlesen und stellt die Frage: „Auf dem Edirnekapı Friedhof liegen eigentlich ausschließlich Muslim*innen begraben. Wie erklärt ihr euch den Grabstein von Bruno Taut dort?“
      • Die Lehrkraft sammelt Beiträge dazu, z.B. dass Bruno Taut vielleicht zum Islam konvertiert ist oder, dass es gewollt war, dass er als Nicht-Muslim dort liegt.
      • Die Lehrkraft stellt sicher, dass die S*S das Konzept des Märtyrertums kennen und auch verstehen, dass es dieses sowohl in christlichen als auch im islamischen Kon­tex­ten gibt.
      • Erwartungshorizont:
        Durch diesen Einstieg, bei dem zunächst Fragen offenbleiben, wird eine kognitive Dissonanz erzeugt und die S*S sollen so dazu motiviert werden, diese mit Hilfe der Texte, die sie im Folgenden erhalten, zu beantworten. Vielleicht gibt es auch schon Vorwissen, das aktiviert werden kann. Die S*S erkennen im Idealfall, dass ein Migrant durch sein Leben und Wirken es so weit bringen kann, dass er von der Gesellschaft zu Lebzeiten und darüber hinaus akzeptiert und geehrt wird.
    4. 7 . Arbeitsphase

      Dauer 23 min
      • Die Lehrkraft kündigt an, dass es nun um die Frage geht, wie ein deutscher Exilant, der vor der nationalsozialistischen Herrschaft floh, als Nicht-Muslim auf einem muslimischen Friedhof in der Türkei beerdigt wurde.
      • Die Lehrkraft teilt die S*S in zwei Gruppen auf, die die Bearbeitung der Aufgaben untereinander aufteilen sollen. Die Lehr­kraft stellt sicher, dass die S*S am Computer oder an Tablets recherchieren und ggf. auch Elemente für ihre Präsen­tation heraussuchen können.
      • Die erste Gruppe befasst sich mit der Biografie von Bruno Taut. Sie erhält die Materialien 12, 13 oder 14, in denen es um das Leben und Werk von Bruno Taut einmal vor und einmal nach der Immigration in die Türkei geht. Bei Materi­al 13 handelt es sich um den Auszug aus einem Zeitungsartikel auf Türkisch. Sofern türkischsprachige S*S in der Klasse sind, können ihre Sprachkennt­nisse gewürdigt werden, indem sie diesen im Original lesen. Alle anderen S*S erhalten die deutschsprachige Übersetzung (Material 14).
      • Die zweite Gruppe beschäftigt sich mit den Werken Tauts in der Türkei (Materialien 15 und 16). Die S*S begutachten die Bauten in Ankara, vergleichen sie miteinander und sammeln Hintergrundinformationen.
      • Erwartungshorizont:
        Die Biografie Tauts zeigt, dass er trotz eines Neuanfangs in einem Land, dessen Sprache und Kultur ihm fremd waren, durch seine Aufgeschlossenheit, seinen Fleiß und seinen Einsatz Anerkennung fand und zu Lebzeiten und darüber hinaus gewürdigt wurde. Mit Hilfe der Materialien können die S*S einen Einblick in Tauts Stil und seine Einstellung gewinnen, Tradition und Moderne, Lokales mit Universellem zu verbinden. Zwar war Taut kein Jude, ist als politischer Verfolgter aber ebenfalls aus dem nationalsozialistischen Deutschland ausgewandert.
    5. 8 . Ergebnissicherung

      Dauer 15 min
      • Die Gruppen stellen ihre Ergebnisse vor.
      • Im Anschluss kommt die Lehrkraft noch einmal auf den Grabstein Tauts zurück und zeigt den Ausschnitt (Material 17), auf dem der Grabstein vergrößert zu sehen ist. Darauf ist auch ein Fußabdruck zu erkennen. Die Lehrkraft fragt erneut, warum Taut als Nicht-Türke und Nicht-Muslim auf diesem beson­deren Friedhof begraben ist und zusätzlich was der Fußabdruck (symbolisch) bedeuten könnte.
      • Erwartungshorizont:
        Die S*S erkennen, dass Bruno Taut auf­grund seiner Leistungen in der Türkei als Ehrung auf diesem Friedhof begraben wurde. Dies musste von der Regierung, höchstwahr­scheinlich von dem damaligen Ministerpräsi­denten Ismet Inönü selbst (darauf deuten auch die Quellen hin) ange­ordnet worden sein. Die S*S verstehen, dass man – wenn die Umstände dies zulassen – unabhängig von der Herkunft, durch ein aufrichtiges Leben und Wirken in der neuen Heimat Fuß fassen und auch von der neuen Heimat angenommen werden kann.
  4. Stunde 4: Ansprüche und Erwartungen an Migrant*innen

    1. Lernziele

      • Die S*S setzen sich mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Urteilen bzgl. der Zuwanderung (Migration und Asyl) auseinander.
      • Sie analysieren den Zusammenhang zwischen der negativen und defizitären Kontextualisierung der Zuwanderung und der Entstehung von Erwartung an den Zuwanderern, erfolgreich sein und etwas Besonderes leisten zu müssen.
    2. Vorbereitung

      • Die Lehrkraft fertigt ausreichende Kopien von Material 18, 19 und 20 an.
      • Es werden Tafel oder Smartboard benötigt.
      • Die Lehrkraft macht sich Gedanken darüber, wie sie unterschiedlichen Positionie­rungen gemeinsam mit den S*S einordnen möchte, z.B. anhand eines Meinungs­spektrums, und bereitet dies vor.
    3. 9 . Einstieg

      Dauer 15 min
      • Die Lehrkraft ruft die wichtigsten Aspekte der vorangegangenen Stunde in Erin­ne­rung und kündigt an, dass sich die S*S nun mit unterschiedlichen Positionie­rungen zum Thema Zuwan­derung auseinander­setzen werden. Neben positiven Mei­nungen ist in der deutschen Gesellschaft auch eine starke negative und problemati­sieren­de Haltung erkennbar, wonach Zuwanderung als Problem und Belastung angesehen wird.
      • Die Lehrkraft teilt zum Einstieg Material 18 „Aussagen zur Migration und Asyl“ aus. Die S*S bekommen 5 Min. Zeit, zu­nächst in Einzelarbeit die Aussagen zu lesen und sich dann in Partnerarbeit über sie auszu­tauschen und eigene Notizen zu machen. Gemeinsam machen sie sich über die Kontextualisierung, Motive und mög­liche Folgen der Aussagen Gedanken. Es ist kein Problem, wenn die S*S nicht alle Aussagen zuordnen können. Wichtiger ist es, dass sie sich Gedanken zu den einzelnen Aussagen machen. Auch der Begriff Ausländerfeindlichkeit ist irreführend, denn auch hierbei geht es gewöhnlich nicht um die Staatsangehörigkeit, sondern es handelt sich um Rassismus oder eine andere Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.
      • Hinweis:
        Die Aussagen lassen sich wie folgt zuordnen 1f, 2c, 3i, 4b, 5e, 6g, 7h, 8d, 9j, 10a.
        In den Aussagen kommt u.a. der Begriff „Ausländer“ vor. Zwar bezeichnet er formal Menschen, die nicht im Besitz der deutsche Staatsangehörigkeit sind, in Debatten, die Migration negativ darstellen, wird er aber in der Regel abwertend für Migranten ver­wen­det. Hierbei geht es aber vorrangig nicht um die Staatsangehörigkeit, sondern es soll eine Nicht-Zugehörigkeit ausgedrückt werden.
      • Die S*S beziehen zu den Aus­sagen Stellung. Die Lehrkraft notiert wich­tige Stichworte, die von den S*S verwendet wurden und für die spätere Diskussion und Vertiefung relevant sein können, an der Tafel oder dem Whiteboard. Sie kann die Aussagen auch mit Unterstützung der S*S in ein Meinungsspektrum einordnen.
      • Hinweis:
        Die Aussagen auf dem Arbeitsblatt sind teilweise provo­kativ. In dieser Phase könnten einige S*S energisch gegen bestimmte Aussagen protestieren. Es ist erst einmal nicht problema­tisch. Wichtig ist dabei, dass die Lehrkraft den S*S immer wieder reflektiert, dass sie subjektiv sein können und für das sach­liche Urteil mehr Wissen benötigt werden kann.
      • Anhand der Aussagen haben die S*S einen Eindruck davon gewonnen, dass das Thema Migration/Zuwanderung in Politik und Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert wird.
      • Es ist auch sinnvoll, über die Kategorien zu sprechen, in denen die unterschiedlichen Argumente ausgedrückt werden. Die wich­tigsten Kategorien können herausgear­beitet werden. Zu den Kategorien können u.a. folgende zählen:
        – Sicherheit
        – (wirtschaftliche) Vor- und Nachteile für das Aufnahmeland
        – Menschlichkeit
      • Hinweis:
        Auch hierbei liegt der Fokus auf Analyse und nicht auf Stellungnahme.
    4. 10 . Arbeitsphase

      Dauer 15 min
      • Die Lehrkraft teilt die Materialien 19 und 20 aus und bittet die S*S, sich jeweils in Zweier­gruppen zusammenzutun. Die S*S arbeiten die wesentlichen Aspekte in den beiden Texten arbeitsteilig heraus und charakterisieren sie. Hierbei gehen sie auch auf Struktur, Ton, Perspektive, Argu­men­tation und mögliche Vorurteile ein.
      • Hinweis:
        Die S*S beschäftigen sich mit den Heraus­forderungen der Zuwanderung im Wesent­lichen in zwei häufig problemati­sier­ten Bereichen, Staatsausgaben und innerer Sicherheit. Es ist klar, dass die beiden Materialien nicht die gesamte Komplexität des Themas abdecken.
        Im Anschluss an die Erarbeitung der beiden Texte ist zu erwarten, dass die S*S das vermeint­liche „Leistungsdefizit“ der Zuwanderer mit positiven Gegenbeispielen zu kompen­sie­ren versuchen. In dem Moment ist es wichtig, den S*S klar zu machen, wie solche Erwartungen an die Zuwanderer entstehen.
    5. 11 . Ergebnispräsentation und -sicherung

      Dauer 15 min
      • Die S*S präsentieren ihre Ergebnisse.
      • Hilfestellung zur Charakterisierung der Texte:
        Auch wenn die beiden Sachtexte keine subjektiven Vorwürfe an die Zuwanderer machen, können die Kontexte als Argu­ment für eine negative Bewertung von Migration herangezogen werden. Migrant*innen sind hier Gegenstand der Analysen. Für viele Menschen ist es sehr unangenehm, mit solchen Informationen konfrontiert zu werden, in denen Migrant*innen defizitär/problematisch wirken.
  5. Stunde 5: Die gemeinsame Gestaltung eines modernen Landes

    1. Lernziele

      • Die S*S verstehen, dass Migrationsbewegungen nicht statisch sind, sondern von äußeren Umständen abhängen und sich mit der Zeit stark verändern können.
      • Sie lernen verschiedene Wege kennen (oder vertiefen ihr Wissen darüber), wie Migrant*innen sich in einer neuen Gesellschaft einbringen können.
      • Sie verstehen, dass Migration nicht allein aufgrund von „Leistungen“ notwendig ist, die Migrant*innen in ihren Aufnahmeländern erbringen, sondern Asyl auch ein wichtiges Recht zum Schutz von Menschenleben ist.
      • Die S*S verstehen Atatürks Strategie zur gezielten Anwerbung von Migrant*innen zum Aufbau der neuen Republik.
    2. Vorbereitung

      • Die Lehrkraft fertigt ausreichende Kopien von Material 23 und für S*S mit Hörbehinderung sowie nicht-muttersprachlichen Deutschkenntnissen Material 25 an.
      • Es werden Tafel , Smartboard, Beamer oder OHP für die Präsentation der Bilder in Materialien 21 und 22 sowie das Video in Material 24 benötigt.
    3. 12 . Einführung

      Dauer 15 min
      • Die Lehrkraft zeigt mit einem Beamer oder OHP die Bilder (Materialen 21 und 22). Die Hintergrundinformationen über die Abbil­dungen auf der zweiten Seite der Materia­lien hält die Lehrkraft für sich bereit.
      • Die Lehrkraft bittet die S*S, die Bilder zu beschreiben und in den unter­richt­lichen Kontext einzuordnen. Wenn türkischspra­chi­ge S*S in der Klasse sind, können diese die Titel und Bildbeschriften in Material 21 vorlesen und über­setzen, sofern sich eine*r von ihnen frei­willig dazu bereit erklärt. Auf diese Weise kann die Mehr­sprachigkeit dieser S*S wertschät­zend ins Unterrichtsgeschehen einge­bunden werden.
      • Die Lehrkraft kommt noch einmal auf den Punkt zurück, dass Migrant*innen natürlich nicht unbedingt irgendetwas leisten müs­sen, um Bürger*innen eines anderen Lan­des zu werden. Hätten mehr Jüd*innen vor dem zweiten Weltkrieg die Möglichkeit gehabt, in ein anderes Land zu fliehen, hätten sicherlich nicht so viele umgebracht werden können. Daher wurden nach dem zweiten Weltkrieg verschiedene Rege­lungen getroffen, die beispielsweise das Recht auf Asyl festschreiben.
    4. 13 . Arbeitsphase

      Dauer 15 min
      • Die Lehrkraft teilt Material 23 aus und lässt es (absatzweise) vorlesen.
      • Die S*S arbeiten die Grundlagen heraus, die als Begründung der Rechte von Flücht­lingen dienen. Sie stellen den Interessen­komflikt der Staaten bzgl. der Migration dar. Sie beschreiben Umgangsmöglich­keiten der Staaten angesichts dieses Interessenkonflikts.
    5. 14 . Abschluss

      Dauer 15 min
      • Die Lehrkraft spielt den zweiten Ausschnitt aus dem Video „Zuflucht am Bosporus“ (Material 24) ab und verteilt ggf. das Transkript (Material 25) an S*S, die es benötigen.
      • Im Anschluss fragt sie die S*S nach ihren Eindrücken. Es entsteht ein Austausch über den Zusammenhang des Videos mit einzelnen Bestandteilen der gesamten Unterrichtseinheit.
      • Zum Abschluss haben die S*S die Möglich­keit sich dazu zu äußern, was sie Neues zur deutsch-türkischen Migrations­geschich­te gelernt haben. Auch kann die Lehrkraft auf offene Fragen eingehen.
      • Sofern dies im Abschlussgespräch noch nicht passiert ist, fasst die Lehrkraft noch einmal zusammen, dass Asyl ein Men­schen­recht und kein Gefallen ist. In bestimmten Phasen in der Geschichte können Menschen aus verschiedenen Ländern oder Regionen aufgrund von Konflikten, Kriegen oder anderen Umstän­den dazu genötigt werden, zu fliehen. Asyl kann für die Migrant*innen, aber auch für die Aufnahmeländer Chancen bieten, wie in dem hier aufgegriffenen Beispiel gezeigt wurde. Die Beispiele machten darüber hinaus auch deutlich, dass in vielen Fällen der neue Aufenthalts­ort zu einer neuen Heimat werden kann, in der sich Menschen wohl fühlen und zu deren Gestaltung sie außerdem beitragen können.

Sie können auch die gesamte Materialsammlung zusammen mit dem kompletten Text dieser Unterrichtseinheit herunterladen.