Spuren jüdischer Geschichte in meiner Stadt
Vorbereitung eines Schulprojekts


Thema
Spuren jüdischer Geschichte, Religion und Kultur finden sich überall in Europa und darüber hinaus – aber wo sind sie? Mit dieser Frage befasste sich das Schulprojekt „Auf der Suche nach der verschollenen Welt“, in dem es darum ging, Schüler*innen (S*S) eines polnischen Gymnasiums mit der jüdischen Vergangenheit ihrer Stadt vertraut und diese für sie erfahrbar zu machen. Die S*S führten Gespräche mit Forscher*innen, Zeitzeug*innen, interessierten Anwohner*innen und auswärtigen Gästen. Danach entwarfen sie einen Rundgang für ihren Ort. Die Ergebnisse des Projektes wurden unter anderem auf einem Festival jüdischer Kultur und in einer Publikation vorgestellt. Die vorliegende zweisprachige Unterrichtseinheit (auf Deutsch und Polnisch) nimmt sich dieses Projekt zum Vorbild und kann für die Vorbereitung eines ähnlichen Projektes in der jeweiligen Stadt oder Region von ganz verschiedenen Schulen in Deutschland wie auch in Polen dienen. Einige Teile der erwähnten Publikation sind Bestandteil dieses Unterrichtskonzeptes.
***Diese Unterrichtseinheit steht als pdf-Datei unter einer Creative Commons Lizenz by-nc-nd zur Weitergabe bereit.***
Lehrplanbezug
Zwischenkriegszeit; Judenverfolgung nach der Machtübernahme der Nazis, Zweiter Weltkrieg; Nachkriegszeit; Umgang mit jüdischem Erbe.
Erwartete Kompetenzen
Methodenkompetenz, Recherchekompetenz, Analysekompetenz, Sozialkompetenz, historische Kompetenz, Sachkompetenz, Diversity-Kompetenz. Im Rahmen des Schulprojektes auch Medienkompetenz und digitale Kompetenz.
Didaktische Perspektive
Die Unterrichtseinheit bereitet die S*S auf die Entwicklung eines eigenen Schulprojektes vor. Sie reflektieren zunächst über das Konzept der jüdischen Identität und nähern sich dem Thema mit Hilfe von Selbstzeugnissen von Jüd*innen in Deutschland und Polen sowie durch die Analyse von zwei jüdischen Märchen an. Sie lernen die Grundlagen der Arbeit mit der Oral History kennen und setzen sich mit einem Zeitzeugenbericht auseinander, der ihnen Elemente jüdischen Lebens von Menschen, die vor dem zweiten Weltkrieg in Polen lebten, näherbringt. Dabei lernen sie, den Zeitzeugenbericht als historische Quelle zu interpretieren, die Erzählung in Raum und Zeit zu lokalisieren, Fakten von Meinungen und Bewertungen der Zeitzeug*innen zu unterscheiden und die Begriffe, die in Zusammenhang mit der jüdischen Kultur stehen, zu identifizieren. Auch erfahren die S*S etwas über die Verschärfung der Verfolgung von Jüd*innen von der Zwischenkriegszeit bis zum Holocaust.
Als Vorbereitung auf ihr eigenes Schulprojekt beschäftigen sich die S*S im weiteren Verlauf der Unterrichtseinheit mit der Spurensuche einer polnischen Schulklasse nach jüdischem Leben in einer ehemals deutschen Stadt im heutigen Westpolen. Im Rahmen des eigenen Schulprojektes erforschen die S*S ihre Umgebung und entdecken die jüdische Vergangenheit und Gegenwart durch das Prisma der materiellen und immateriellen Kultur. Durch die Recherche über die Geschichte ihrer Umgebung erhalten die S*S die Möglichkeit, das im Geschichtsunterricht erlernte Wissen wie auch historische Methoden zu dessen Interpretation zu vertiefen, unbekannte Aspekte der Geschichte, die sich nicht in den Schulbüchern finden lassen, zu entdecken und sie stellen einen Bezug zur Vergangenheit der Umgebung ihrer Schule her. Darüber hinaus lernen sie, die Informationen miteinander in Verbindung zu setzen und mithilfe multimedialer Mittel darzustellen. Die S*S üben den Umgang mit Internetquellen, technischen und informationstechnologischen Hilfsmitteln sowie ihre Präsentationsfähigkeiten. Ein wichtiges Element der Projektarbeit ist die Reflexion über die Bewahrung der Erinnerung an die jüdischen Mitmenschen, von denen oft nur noch (wenige) Spuren übrig sind.
Die ersten zwei Unterrichtsstunden können entweder beide als Einstieg in das Thema gewählt werden oder die Lehrkraft kann mit nur einer der Möglichkeiten zum Hauptthema hinführen. Die erste Stunde arbeitet vor allem mit Kurzvideos. Je nachdem, ob das Schulprojekt einen stärkeren Deutschland- oder Polenbezug haben soll, stehen verschiedene Materialien zur Verfügung und eine Arbeitsphase gibt es wiederum in zwei unterschiedlichen Varianten, zwischen denen die Lehrkraft wählen kann. Dies dient dazu, die Unterrichtseinheit für verschiedene Schulklassen relevant und möglichst lebensweltnah zu gestalten. Die zweite Unterrichtsstunde arbeitet mit Gedichten und eignet sich besonders für Lerngruppen, in denen Textarbeit der Arbeit mit audiovisuellen Quellen vorgezogen wird.
Einige Materialien sind in zwei Sprachversionen (auf Deutsch und auf Polnisch) verfügbar, sodass mehrsprachige S*S die Möglichkeit haben, ausgewählte Texte in der von der Unterrichtssprache abweichenden Version zu lesen.
In der Ausgestaltung der Unterrichtseinheit stellte es sich immer wieder als herausfordernd dar, nicht-jüdischen S*S Informationen und Einblicke zu vermitteln und gleichzeitig jüdische S*S als Teil der Klassengemeinschaft mitzudenken. In bestimmten Bereichen haben wir dem Informationsauftrag Vorrang gegeben. Ziel ist es, S*S für die jüdische Geschichte in ihrer Umgebung zu sensibilisieren, Vorurteile abzubauen, stereotypen Bildern entgegenzuwirken sowie Antisemitismus zu erkennen und zu bekämpfen. Bestimmte Teile dieser Unterrichtseinheit könnten daher den Eindruck erwecken, dass sie sich stärker an nicht-jüdische S*S richten. Dennoch war es uns ein Anliegen, jüdische S*S bei der Konzeption mitzudenken. Die Unterrichtseinheit wurde daher vor der Veröffentlichung gezielt in einer Klasse mit jüdischen S*S getestet. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass gerade jüdische S*S die Aufgabenstellung anders wahrnehmen. Lehrkräfte sollten daher im Blick haben, dass unter den Lernenden in ihrer Klasse solche mit jüdischer Familiengeschichte oder aktiv gelebter jüdischer Identität sind, die ihre Erfahrungen gern von sich aus mit ihren Mitschüler*innen teilen dürfen. Manche von ihnen möchten ihre jüdischen Bezüge vielleicht nicht thematisieren – und schon gar nicht im Rahmen des Unterrichts. Für Feedback und konstruktive Verbesserungsvorschläge zu dieser und anderen Fragen sind wir sehr dankbar und versuchen diese zeitnah auf die Plattform zu bringen.
Bei der Durchführung der Unterrichtseinheit ist es wichtig darauf zu achten, keine Unterscheidung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen S*S an diese von außen heranzutragen. So sollten jüdische S*S beispielsweise nicht als Expert*innen angesprochen und aufgefordert werden, als solche zu agieren und allgemein Aussagen über (alle) Jüd*innen oder über ihre eigene Familie und deren Geschichte zu machen.[1] Wenn sie die Klasse aber an bestimmten Aspekten ihres Lebens und ihrem Wissen teilhaben lassen wollen, sollten sie die Möglichkeit dazu haben. Momente, die die Heterogenität jüdischen Lebens zeigen, können während der Unterrichtsgespräche stets aufgegriffen werden, damit nicht-jüdische S*S keine stereotypen Vorstellungen über Jüd*innen erlernen und zunächst Individuen sehen, deren Leben sowohl Gemeinsamkeiten zu dem eigenen wie auch Unterschiede hat.
Die Unterrichtseinheit befasst sich an unterschiedlichen Stellen mit dem Holocaust. Auch wenn Sie dies sicherlich bereits in Ihrer Ausbildung gelernt haben, möchten wir darauf hinweisen, dass S*S durch ihre Familien intergenerationale Traumata in sich tragen können, die beispielsweise durch Aussagen zum Holocaust oder Diskriminierung getriggert werden – selbst wenn das in vorangegangenen Unterrichtseinheiten, beispielsweise zum Zweiten Weltkrieg, nicht geschehen ist. Es empfiehlt sich daher immer, wenn Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten sowie Genozid im Unterricht behandelt werden, dies vorab mit den Eltern von S*S, deren Familie ggf. von den im Unterricht thematisierten Ereignissen und Taten betroffen sind, zu besprechen. Sie können in der Regel am besten einschätzen, ob ihr Kind vorbereitet werden sollte oder in bestimmten Bereichen Unterstützung benötigt. Zudem empfiehlt es sich, ein sorgsames Auge auf die S*S zu haben und ggf. frühzeitig denjenigen Raum zu bieten, sich für sie problematischen Situationen zu entziehen, die dies benötigen.
[1] Sofern derartige Aufforderungen von Mitschüler*innen kommen, beobachtet die Lehrkraft die Situation und greift sofort ein, wenn es den Anschein macht, als ob die*der angesprochene Schüler*in nicht von sich aus etwas mitteilen möchte. Die Lehrkraft kann hier beispielsweise auf die Heterogenität des Jüdisch-Seins verweisen und sagen, dass sich die S*S, die etwas dazu sagen wollen, sicherlich freiwillig melden, wenn sie dies möchten.
Sie können auch die gesamte Materialsammlung zusammen mit dem kompletten Text dieser Unterrichtseinheit herunterladen.