Schuld und Verantwortung

Reflexionsmodul zu geschichtskulturellen Debatten zum Thema Holocaust in der postmigrantischen Gesellschaft

Von: Oliver Glatz, Uriel Kashi

Sachinformation

Worum geht es?

„Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz”, postulierte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2015.[1] Sein Nachfolger Frank-Walter Steinmeier führte anlässlich des Tages der deutschen Einheit 2017 aus: „Eines ist nicht verhandelbar in dieser deutschen Demokratie: das Bekenntnis zu unserer Geschichte, einer Geschichte, die für nachwachsende Genera­tionen zwar nicht persönliche Schuld, aber bleibende Verantwortung bedeutet. Die Lehren zweier Weltkriege, die Lehren aus dem Holocaust, die Absage an jedes völkische Denken, an Rassismus und Antisemitismus, die Verantwortung für die Sicherheit Israels – all das gehört zum Deutsch-Sein dazu. Und zum Deutsch-Werden gehört, unsere Geschichte anzuerkennen und anzunehmen.”[2]

Damit wird deutlich, dass in der Geschichtspolitik der Bundesrepublik die Konzepte Schuld und Verantwortung die Debatten über die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland maßgeblich prägen. Bis vor einigen Jahren wurde der Diskurs um den NS und den Holocaust im Unterricht von dem Wort der „Übersättigung” geprägt. Schüler*innen (S*S) seien des Themas überdrüssig. Seit einiger Zeit aber zeichnet sich ein anderes Bild ab, das sich auch in den Ergebnissen des Forschungsprojektes Historisches Lernen in der Migrationsgesellschaft (Geschichten in Bewegung) widerspiegelt: ein großes Interesse am Thema des Nationalsozialismus und ange­regte Diskussionen über die Frage der Schuld und Verantwortung finden aktuell im Unterricht statt.

Die schulische Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und dem Holocaust schließen damit eine Auseinandersetzung mit den Konzepten von Schuld und Verantwortung mit ein.

Das heute staatstragende Bekenntnis zu einer deutschen Verantwortung für die nationalsozia­listischen Verbrechen ist aber erst ein Produkt der „Berliner Republik”, das in der Institutionali­sierung zahlreicher Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus und nicht zuletzt in der Errichtung des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas” im Herzen Berlins seinen Niederschlag fand.[3]

Mit der „Berliner Republik” und der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts wuchs auch das Bewusstsein, dass es sich bei der deutschen Gesellschaft um eine Einwanderungs­gesell­schaft handelt. Menschen mit Migrationserfahrung und ihren Nachkommen wurde allerdings immer wieder unterstellt, dass sie sich wenig für Fragen der deutschen Geschichte interessierten[4] und nur schwierig eine „deutsche Identität” im Sinne Gaucks entwickeln könnten.[5]

Daher verfolgten die um die Jahrtausendwende entwickelten speziellen pädagogischen Kon­zep­te das Ziel, den Eingewanderten die Lehren aus der deutschen Geschichte zu vermit­teln.[6] Diese zwar gut gemeinten speziellen Konzepte führten letztendlich jedoch zu einem „Othering” derjenigen S*S, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wurde, sie wurden sozusagen zu „Migrationsanderen”.[7] Die vermeintlich „richtige” Positionierung dieser S*S zu den Konzepten von „Schuld” und „Verantwortung” für die NS-Verbrechen wurde zuweilen zur Bedingung gemacht für die Zugehörigkeit zu einem vermeintlichen Kollektiv der „Deut­schen”, vielleicht sogar zum Kennzeichen einer „deutschen Identität”.

In diesem Modul setzen sich die S*S mit verschiedenen Bedeutungen der Begriffe auseinander. Sie ordnen unterschiedliche Aussagen den aus dem Material entwickelten vier Kategorien zu:

  • Wegen Handlungen meiner Vorfahren trage ich besondere Verantwortung aus der Geschichte heraus.
  • Als Deutsche*r trage ich eine besondere Verantwortung aus der Geschichte heraus.
  • Als Mensch trage ich Verantwortung, allerdings keine besondere Verantwortung als Deutsche*r.
  • Ich trage keine besondere Verantwortung aus der Geschichte heraus.

Darüber hinaus werden sie dazu angeregt, eine eigene Positionierung zu entwickeln.

 

Welche Materialien werden verwendet?

Um das Thema zielgruppengerecht aufzubereiten, wurde als Einstieg ein Filmbeitrag von EinsPlus (ARD) mit den Stimmen Jugendlicher und junger Erwachsener zum Thema gewählt (Material 1). Die in der zweiten Unterrichtseinheit verwendeten Zitate zum Thema „Schuld und Verantwortung“ sind größtenteils fiktiv, wurden aber von Leser*innenkommentaren themen­relevanter Artikel auf „Zeit Online” inspiriert (Material 3 und 4).

Grundlage der dritten Unterrichtseinheit ist ein Briefwechsel über das Verhältnis von Migrantisierten zur „deutschen“ Geschichte zwischen Jakob Augstein und Naika Foroutan, der in der Wochenzeitung „Der Freitag” abgedruckt wurde (Material 5).

 

Materialien

Material 1:      Video – Schuld oder Verantwortung

Material 2:       Transkript – Schuld oder Verantwortung

Material 3:       Zitate – Verantwortung aus der Geschichte heraus

Material 4:       Karten – Verantwortung aus der Geschichte heraus

Material 5:       Arbeitsblatt – Zum Geschichtsbewusstsein von Migrantisierten

 

Weiterführende Literatur

Assmann, Aleida. Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur – Eine Intervention, 2. Auflage, München: C.H. Beck, 2016.

Brauer, Juliane. „Geschichtskultur, Emotionen und historisches Lernen“, in: Anja Besand, Bernd Overwien und Peter Zorn (Hg.), Politische Bildung mit Gefühl, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2019, 232–245.

Fava, Rosa. Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungs­gesellschaft: Eine rassismuskritische Diskursanalyse, 2015, Berlin: Metropol.

Georgi, Viola B. „Jugendliche aus Einwandererfamilien und die Geschichte des Nationalsozialismus“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1. Oktober 2003, https://www.bpb.de/apuz/27389/jugendliche-aus-einwandererfamilien-und-die-geschichte-des-nationalsozialismus?p=all, zuletzt geprüft am 05. Januar 2021.

Georgi, Viola B. „‚Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich jugendliche Deutsche auch interessieren‘: Zur Bedeutung der NS-Geschichte und des Holocaust für Jugendliche aus Einwandererfamilien“, in: Viola B. Georgi und Rainer Ohliger, Crossover Geschichte: Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Körber-Stiftung, 2009, 90–108.

Gryglewski, Elke. Anerkennung und Erinnerung: Zugänge arabisch-palästinensischer und türkischer Berliner Jugendlicher zum Holocaust, Berlin: Metropol, 2013.

Gryglewski, Elke. „Gedenkstättenarbeit in der heterogenen Gesellschaft“, in: Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz und Christa Schikorra (Hg.), Gedenkstättenpädagogik. Berlin: Metropol, 2015, 166–178.

Hensel, Jana. „Opa war kein Held“, in: Zeit Online, 3. März 2018, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/holocaust-gedenken-nationalsozialismus-erinnerungskultur-essay-jana-hensel/komplettansicht, zuletzt geprüft am 05. Januar 2021.

Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (Hg.). „Trügerische Erinnerungen: Wie sich Deutschland an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert: Multidimensionaler ErinnerungsMonitor https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Pressemitteilungen/MEMO_PK_final_13.2.pdf, siehe auch . https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Stiftung/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2019_final.pdf, zuletzt geprüft am 05. Januar 2021.

Kermani, Navid. „Die Zukunft der Erinnerung: Auschwitz morgen“, in: FAZ Online, 07. Juli 2017, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/auschwitz-morgen-navid-kermani-ueber-die-zukunft-der-erinnerung-15094667.html, zuletzt geprüft am 05. Januar 2021.

Knigge, Volkhard und Sybille Steinbacher (Hg.). Geschichte von gestern für Deutsche von morgen? Die Erfahrung des Nationalsozialismus und historisch-politisches Lernen in der (Post-)Migrationsgesellschaft, Göttingen: Wallstein, 2019.

Kühner, Angela. „NS-Erinnerung und Migrationsgesellschaft: Befürchtungen, Erfahrungen und Zuschreibungen, in: Einsichten und Perspektiven 01 (2008).

Leitlein, Hannes. „Die Nazis, das waren wir“, in: Zeit Online, 07. Mai 2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/grosseltern-zweiter-weltkrieg-zeitzeugen-deutsches-erbe/komplettansicht, zuletzt geprüft am 05. Januar 2021.

Lorenz, Friederike, Tim Zosel, Helmut Bremer, Fabian Kessl, Lance Leverson und Julia Resnik. „‚ich erwarte auch irgendwie (.) Gefühl (.) für die Sache zu bekommen‘: Die Thematisierung von Emotionen durch Lehrer*innen vor einer Weiterbildung zur Shoah in Yad Vashem“, in: Olaf Dörner, Anke Grotlüschen, Bernd Käpplinger, Gabriele Molzberger und Jörg Dinkelaker (Hg.), Vergangene Zukünfte – neue Vergangenheiten: Geschichte und Geschichtlichkeit der Erwachsenenbildung, Leverkusen-Opladen: Barbara Budrich, 2020, 45–56.

Mecheril, Paul. Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim: Beltz, 2004.

Mendel, Meron und Astrid Messerschmidt. Fragiler Konsens: Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft, Frankfurt am Main: Campus, 2017.

Messerschmidt, Astrid. „Selbstkritisches Erinnern – Vergegenwärtigen der NS-Verbrechen in der Migrationsgesellschaft“, in: Rudolf Leiprecht, Rudolf und Anja Steinbach (Hg.), Schule in der Migrationsgesellschaft 2: Sprache – Rassismus – Professiona­lität, Schwalbach/Ts.: Debus, 2015, 269–286.

Messerschmidt, Astrid. „Rassismus- und antisemitismuskritische Geschichts­vermittlung im Kontext von vielfältigen Zugehörigkeiten“, in: Volkhard Knigge und Sybille Steinbacher (Hg.), Geschichte von gestern für Deutsche von morgen? Die Erfahrung des Nationalsozialismus und historisch-politisches Lernen in der (Post-)Migrationsgesellschaft, Göttingen: Wallstein, 2019, 155–172.

Prengel, Annedore. Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik, Opladen: Leske und Budrich, 1995.

Roth, Harald (Hg.). Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten, München: Pantheon, 2014.

Schlagwein, Felix. „Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung“: Deutsche Welle, 27. Januar 2019, https://www.dw.com/de/es-geht-nicht-um-schuld-sondern-um-verantwor
tung/a-47216492
, zuletzt geprüft am 05. Januar 2021.

Schönian, Valerie. „Geht der Osten anders mit der Schuld um?“, in: Zeit Online, 06. November 2017, https://www.zeit.de/2017/45/ns-zeit-ostdeutschland-volkhard-knigge-gedenkstaette-buchenwald, zuletzt geprüft am 05. Januar 2021.

Schwarzer, Anke. „Die Urenkel trauen sich“, in: Zeit Online, 04. Mai 2015, https://www.zeit.de/hamburg/stadtleben/2015-04/ns-zeit-taetersuche-enkel-forschen-kz-gedenkstaette-neuengamme?page=2#comments, zuletzt geprüft am 05. Januar 2021.

Siebeck, Cornelia. „60 Jahre ‚arbeitende‘ NS-Gedenkstätten in der Bundesrepublik: Vom gegenkulturellen Projekt zur staatlichen Gedenkstättenkonzeption – und wie weiter?“, in: Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz und Chrstia Schikorra. (Hg.), Gedenkstättenpädagogik, 2015, Berlin: Metropol, S. 19–43.
 

Initiativen zur Erinnerungskultur (Auswahl)

Online-Portal des Auswärtigen Amtes und der FAZ: https://www.deutschland.de/de/niemals-vergessen

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste: https://www.asf-ev.de/

Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft: https://www.stiftung-evz.de/start.htmlZweitzeugen: Gemeinnütziger Verein, der (jungen) Menschen anhand weitererzählter Holocaust-Überlebensgeschichten die Wesentlichkeit von Akzeptanz lehrt: https://zweitzeugen.de/

 

[1] Abgedruckt unter https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw05_gedenkstunde-357044.

[2] Abgedruckt unter https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/
Reden/2017/10/171003-TdDE-Rede-Mainz.html
.

[3] Vgl. für einen historischen Überblick Cornelia Siebeck. „60 Jahre ‚arbeitende‘ NS-Gedenkstätten in der Bundesrepublik; Vom gegenkulturellen Projekt zur staatlichen Gedenkstätten­konzeption – und wie weiter?“, in: Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz und Christa Schikorra (Hg.): Gedenkstättenpädagogik, Berlin: Metropol, 2015, 19–43.

[4] Emotional mögen die Zugänge unterschiedlich sein, empirisch unterscheidet sich das Interesse von S*S „mit Migrationshintergrund“ an der Geschichte des Nationalsozialismus nicht von jenem der S*S „ohne Migrationshintergrund“. Vgl. hierzu: Angela Kühner. „NS-Erinnerung und Migrationsgesellschaft: Befürchtungen, Erfahrungen und Zuschreibungen“, in: Einsichten und Perspektiven 01 (2008), 52–65. Für einen Forschungsüberblick siehe Viola B. Georgi. „Historisch-politische Bildung im Zeichen von Globalisierung, geschichtskulturellem Wandel und migrationsgesellschaftlicher Diversität: Ihre Bedeu­tung für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“, in: Volkhard Knigge und Sybille Stein­bacher (Hg.), Geschichte von gestern für Deutsche von morgen? Die Erfahrung des Nationalsozialismus und historisch-politisches Lernen in der (Post-)Migrationsgesellschaft, Göttingen: Wallstein, 2019, 59–63.

[5] Etwaige – direkte oder indirekte – familienbiografische Bezüge von S*S mit beispielsweise osteuropäischem oder nordafrikanischem Migrationshintergrund zu Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg werden konsequent ausgeblendet. Vgl. Oliver von Wrochem. „Historisch-politisches Lernen an Gedenkstätten in transnationaler und globalgeschichtlicher Perspektive“, in: Knigge und Steinbacher (Hg.), Geschichte von gestern für Deutsche von morgen?, 109–128.

[6] Vgl. Elke Gryglewski. „Gedenkstättenarbeit in der heterogenen Gesellschaft“, in: Gryglewski  et al. (Hg.), Gedenkstättenpädagogik, 166–178. Vgl. auch: Rosa Fava. Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse, Berlin: Metropol, 2015 sowie Astrid Messerschmidt. „Selbstkritisches Erinnern – Vergegenwärtigen der NS-Verbrechen in der Migrationsgesellschaft“, in: Rudolf Leiprecht und Anja Steinbach (Hg.), Schule in der Migrationsgesellschaft 2: Sprache – Rassismus – Professionalität, Schwalbach/Ts.: Debus, 2015, 270–286.

[7] Der Begriff „Migrationsandere“ wird anstelle des Begriffs „Migrant*in“ genutzt, weil es hier nicht nur um die Benennung von Menschen mit tatsächlichen Migrationserfahrungen geht, sondern auch und hauptsächlich um Menschen, denen ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Dieser Zuschreibung folgt eine Abgrenzung einer sich dadurch konstituierenden „Wir“-Gruppe von den vermeinlich „Anderen“. Den Zu-Anderen-Gemachten wird eine Zugehörigkeit zum Kollektiv abgesprochen, sie erleben damit Ausgrenzung. Vgl. Paul Mecheril. Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim: Beltz, 2004

Sie können auch die gesamte Materialsammlung zusammen mit dem kompletten Text dieser Unterrichtseinheit herunterladen.